Schon in Münster hat uns das anonyme Leben im Mehrparteienhaus so genervt, dass wir ein Nachbarschaftskennenlernen organisiert haben. Sich mal mit Mehl oder Bohrmaschine aushelfen, zusammen Fußball schauen, das war unser Wunsch und es hat tatsächlich geklappt!
Und obwohl wir zwischendurch auch mal von einer Alleinlage im Wald geträumt haben, dachten wir spätestens mit Blick auf Kinder: Eine Gemeinschaft wäre schon was Feines. „Synergieeffekte“ nennt Helge das im Manager-Sprech.
Tja, und wo kann man mehr über eine Gemeinschaft lernen als in einer „richtigen“ Gemeinschaft, wo Wohnraum, Lebensmittel, Hobbys, (Partner?,) Kindererziehung geteilt wird? Also auf ins Ökodorf Sieben Linden, das seit über 20 Jahren beweist, das das funktionieren kann.
Wir melden uns für die „Sieben Linden Info-Woche und Urlaub“ an.
Vormittags Seminar, nachmittags frei und Vollverpflegung – das hört sich schon mal nicht schlecht an. Der erste Eindruck: toll. Alles blüht, die Insekten schwirren und obwohl im Dorf rund 150 Menschen wohnen, entsteht durch das viele Grün eher der Eindruck der vielerträumten Alleinlage.
Im ganzen Dorf herrscht Autoverbot, Rauchen ist nur in einer Ecke erlaubt. Es gibt selbstgebaute Spielplätze, einen Schwimmteich, eine Kneipe mit Kino, Tanz- und Meditationsplätze, eine Sauna und einen Zu-verschenken-Laden. Viele Bauwägen und – das war unsere Sorge – nicht nur Dreadlocks-Hippies, sondern relativ normal aussehende Menschen.
Gegen die gefährlichen Handystrahlen
Um „die Ruhe zu erhalten“, werden wir schon am Eingang per Schild aufgefordert, unsere Handys auszuschalten. Als wir zwischendurch Mails checken wollen, vermuten wir schnell: Es wurden wahrscheinlich sogar Störsender geschaltet. Rund ums Dorf gibt es gutes Netz, im Dorf ist das eher Glückssache.
Digitalisierung? Scheint in Sieben Linden eher unwichtiger zu sein, als es uns ist. Durch die Woche begleitet uns Stefan Althoff. Er lebt seit 30 Jahren in Gemeinschaften und erfreut uns mit seiner Ruhrpott-Ausstrahlung à la Herbert Knebel. Dass die Woche hier kein Frontalvortrag wird, macht er uns direkt klar. Zur Begrüßung gehen wir durch den Raum und stellen uns auf Stopp einander vor: Welche Berührungen hatten wir bisher mit Gemeinschaft? Sofort hat die Gruppe eine gewisse Intimität.
Für Kinder ist Sieben Linden ein Paradies
Wir Interessenten sind recht dreigeteilt: Die eher jungen, die noch auf der Suche und noch nicht auf einen Platz festgelegt sind, die mit (kleinen) Kindern und die „Babyboomer“, gerne auch alleinlebend, die kurz vor der Rente stehen.
Der Eindruck verfestigt sich auch im Laufe der Woche: Gerade für Kinder ist das Ökodorf ein absolutes Paradies. Auch für Rentner ist es toll: kurze Wege, viel Trubel um einen herum, alles vor Ort. Außerdem können die Boomer die 25.000 Euro Selbsteinlage viel leichter stemmen – und sie haben nicht das Problem, dass sie in der Sachen-Anhaltlichen Pampa ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen.
6000 – 7000 Gästeübernachtungen pro Jahr
„Die Hälfte der Leute hier arbeiten intern, die anderen extern“, sagt Stefan Althoff. Extern zum Beispiel als Lehrer, Seminarleiter, Handwerker, Arzt. Intern als Reinigungskräfte, Gärtner, Waldkindergärtner, als Holzfäller, als Zimmermann. „Die meisten haben mehrere Jobs.“
Eine vierköpfige Familie muss monatlich mit ungefähr 2100 Euro Kosten rechnen – inklusive Miete und Lebensmittel. Vor allem die Workshops sind ein absolut wichtiger ökonomischer Teil des Ökodorfs, es gibt 6000 – 7000 Gästeübernachtungen pro Jahr. Daher wird gerade ein neues Gästehaus gebaut. Doch was wird gelehrt? „Wir sehen uns als Experimentierlabor“, sagt unser Kursleiter. „Wir probieren viele Sachen aus und vermitteln unsere Erfahrungen.“
Und zwar zum Beispiel:
Strohbau: Mit elf Gebäuden aus Stroh und Holz hat Sieben Linden die größte Strohballenhausdichte in Europa, eines davon ist das erste dreistöckige Strohballenhaus in Europa. Ein Experiment war sogar ganz ohne Strom, nur in Handarbeit ein komplettes Haus zu bauen.
Kompost-Toiletten: In Sieben Linden gibt es keine Wassertoiletten. Das spart ihnen ca. die Hälfte des Wasserverbrauchs ein. Über eine Pflanzenkläranlage werden die Fäkalien gereinigt – und dienen Büschen und Bäumen als natürlicher Dünger.
Selbstversorgung: Der große Garten und die Gemeinschaftsküche versorgen die Bewohner zu 75 % mit eigenem Obst und Gemüse. Strom: Wird gewonnen durch Fotovoltaik (65 % pro Bewohner), außerdem wird gespart, wo es geht, z. B. mit gemeinschaftlichen Waschmaschinen.
Mobilität: Auch wenn viele ein eigenes Auto haben (Pampa!), gibt es rund zehn gemeinschaftliche Wagen. Im Ort besteht Fahrverbot. Aber was man mit Sicherheit am besten lernen kann, ist, wie eine Gemeinschaft funktionieren kann. Wir hätten ja niemals gedacht, dass das so herausfordernd sein kann.
Flexible und große Dinge haben eine bessere Stabilität
Es gibt mehrere Genossenschaften und Räte, die das Zusammenleben und die Zukunft koordinieren. Dazu Nachbarschaftsgruppen, Wohngemeinschaften, Mediationsgruppen bei Problemen im ganz Kleinen wie im Großen. Zum Beispiel die Frage: Was soll gebaut werden? Das Ziel ist es, auf 300 Bewohner zu kommen. „Flexible und große Dinge haben eine bessere Stabilität“, erklärt Stefan Althoff. Und: Entwickeln wir uns im Miteinander als Gemeinschaft, oder werden wir ein Dorf und leben eher nebeneinander?“
Es muss sooo viel entschieden werden: Wer darf rein? Bewerber müssen mit mindestens zwei Jahren Bewerbungsdurchlauf mit mehreren Seminaren rechnen. „Dass es Sieben Linden noch gibt, liegt daran, dass wir so viel Zeit in den guten Umgang miteinander stecken“, erklärt Stefan. Dazu nutzen sie unter anderem Gewaltfreie Kommunikation, Dragon Dreaming, Familienaufstellungen, Gesprächsrunden, Foren usw. „Ich bin auch nicht mit allen supergut befreundet, aber ich finde bei allen wichtig, dass sie da sind.“
Auch wir kriegen einen kleinen, aber sehr eindrucksvollen Eindruck: Wir sollen, während der Kreis um uns schweigt, eine unpopuläre Meinung droppen. Da ich innerlich gerade mit einigen Teilnehmern anecke, lasse ich meine Wut ungehemmt raus, angestachelt durch Stefan: „Es gibt hier Leute, denen ich gerne mal sagen würde, dass sie die Klappe halten sollen. Die sind wirklich nicht so interessant, wie sie denken. Die denken, dass sie der Mittelpunkt des Universums sind.“ – „Und wer ist der Mittelpunkt des Universums?“, fragt Stefan. Ich gehe voll darauf ein: „ICH natürlich! Ich habe viel spannendere Sachen zu erzählen, aber ich halte mich auch zurück.“ Noch während ich das schreibe, kriege ich eine Gänsehaut. Das war eine tolle, witzige, entlastende Erfahrung!
Viel Potenzial für Persönlichkeitsentwicklung
Man werde eben durch das enge Zusammenleben ständig gespiegelt, so Stefan. Man müsse daher innerlich und materiell beweglich sein. Wir merken: Eine Gemeinschaft bietet viel Potenzial für Persönlichkeitsentwicklung. Deswegen wird die Bereitschaft dazu auch in der Bewerbungsphase immer wieder abgeklopft. Und: 50 % reingeben reiche nicht, so Stefan. „Es ist wie beim Abwasch: Kümmere dich um deine Sachen – und um ein Teil mehr!“Helge und ich haben die Woche in 7 Linden sehr genossen. Wir können das Seminar jedem empfehlen, der einen ersten Einblick in das Leben in Gemeinschaften bekommen will oder selbst eine gründen will.
„Besitz muss von vorneherein gemeinschaftlich sein.“
Dazu ein Tipp von Stefan: „Wenn einer von euch einen Bauernhof erbt, der Alleinbesitzer ist und daraus eine Gemeinschaft gründen will: Das klappt nie. Besitz muss von vorneherein gemeinschaftlich sein.“
Wir hätten aber Sorge, dass uns persönlich die ständigen Auseinandersetzungen zu viel Energie rauben würden. Denn auch wenn uns vieles inspiriert, wie der Versuch den ökologischen Fußabdruck reduzieren und die gemeinschaftlichen Aktivitäten hat die Gemeinschaft nach einige Blinde Flecke, wie das Thema Digitalisierung und die unserer Meinung nach drohende Überalterung. Für wen ist Sieben Linden interessant, wenn man erst einmal testweise für ein Jahr aufgenommen wird? Wie soll man das als mittelalter Mensch stemmen, der schon eine Wohnung und einen Job hat?
Insgesamt glauben wir aber, dass wir alle, ob als Dorf, Land, Weltgemeinschaft, davon profitieren könnten, wenn wir das Funktionieren der Gemeinschaft über unsere persönlichen Bedürfnisse stellen würden. Überlegt mal, in was für einer tollen Welt wir dann leben würden!
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